33

 

Sharon Alexander machte sich gerade eine frische Kanne Tee, als es an ihrer Wohnungstür im zwölften Stock klopfte.

„Ist offen, mein Liebling“, rief sie aus der Küche. „Hast du deinen Schlüssel vergessen?“

„Ich hatte nie einen.“

Sharon schrak auf, als unerwartet eine tiefe Männerstimme ertönte.

Sie erkannte den dunklen Bariton, aber ihn in ihrer Wohnung zu hören - unangekündigt und nach Einbruch der Dunkelheit - war doch ein Schock für sie.

„Oh. Hallo, Gordon.“ Sie zupfte befangen an ihrer Strickjacke und wünschte sich, nicht ausgerechnet ihre ältesten Hausklamotten angezogen zu haben. Auf einen kultivierten Mann wie Gordon Fasso hätte sie gerne einen ansprechenderen Eindruck gemacht.

„Ich ... nun, meine Güte ... das ist eine unerwartete Überraschung.“

Er sah sich mit seinem kühlen Blick in der kleinen, unglaublich unaufgeräumten Wohnung um. „Komme ich ungelegen?“

„Nein, natürlich nicht.“ Sie lächelte ihn an, aber er erwiderte ihr Lächeln nicht. „Ich war gerade dabei, Tee zu machen. Möchten Sie welchen?“

„Nein. Ich vertrage das Zeug nicht.“ Jetzt lächelte er, aber von diesem Grinsen, das sich langsam auf seinem Gesicht ausbreitete, wurde ihr nur noch unbehaglicher. „Ich bin im Krankenhaus vorbeigekommen, aber die Schwester sagte mir, Sie seien entlassen worden. Ich nehme an, Ihre Tochter hat Sie nach Hause gebracht.“

„Ja“, erwiderte Sharon und sah ihm zu, wie er gemächlich durch ihr Wohnzimmer schlenderte. Sie strich sich das Haar zurecht und hoffte, dass ihre Frisur keine völlige Katastrophe war. „Ich habe mich sehr über die Pralinen gefreut, die Sie mir gebracht haben, die waren köstlich. Aber Sie hätten mir doch nichts mitbringen sollen, das wissen Sie doch.“

„Wo ist sie?“

„Bitte?“

„Ihre Tochter“, sagte er knapp. „Wo ist Dylan?“

Eine Sekunde lang riet Sharons Mutterinstinkt ihr, zu lügen und zu sagen, dass Dylan nicht in der Nähe war und nicht so bald zurück sein würde. Aber das war doch lächerlich, oder nicht?

Sie hatte keinen Grund, Mr. Fasso zu fürchten. Gordon, erinnerte sie sich und versuchte, den charmanten Gentleman in ihm zu sehen, als der er sich in letzter Zeit gezeigt hatte.

„Ich kann sie riechen, Sharon.“

Diese Bemerkung fiel dermaßen aus dem Rahmen, dass sie nun völlig durcheinander war. „Sie können ... was?“

„Ich weiß, dass sie hier war.“ Er nagelte sie mit einem eisigen Blick fest. „Wo ist sie, und wann kommt sie zurück? Das waren keine schwierigen Fragen.“

Eine eisige Kälte kroch ihr in die Knochen, als sie diesen Mann ansah, über den sie eigentlich so wenig wusste. Ein Wort blitzte in ihrem Kopf auf, als er auf sie zukam ... Böse.

„Ich habe Ihnen gesagt, dass ich das Mädchen kennenlernen will“, sagte er, und als er sprach, geschah etwas sehr Seltsames mit seinen Augen. Ihre eisige Farbe veränderte sich, wurde zu feurigem Bernsteingelb. „Ich habe die Warterei satt, Sharon. Ich muss die Schlampe sehen, und zwar sofort.“

Sharon begann, ein Gebet zu murmeln. Sie wich vor ihm zurück, als er immer näher kam, aber viel Platz blieb ihr nicht. Er würde sie in die Ecke drängen, und die Schiebetür im Wohnzimmer führte auf einen kleinen Balkon hinaus, zwölf Stockwerke über der Straße. Eine warme Brise drang durch das Fliegengitter und brachte den Verkehrslärm vom geschäftigen Queens Boulevard mit.

„W... was wollen Sie von Dylan?“

Er lächelte, und Sharon fiel beim Anblick seiner grotesk langen Zähne beinahe in Ohnmacht. Nein, dachte sie verständnislos. Das waren keine Zähne.

Das waren Fänge.

„Ich brauche deine Tochter, Sharon. Sie ist eine ungewöhnliche Frau, die mir helfen kann, die Zukunft zu gebären. Meine Zukunft.“

„Oh, mein Gott ... Sie sind verrückt, nicht wahr? Sie sind krank.“

Sharon schob sich zentimeterweise von ihm fort, Panik hämmerte in ihrer Brust. „Was zur Hölle sind Sie?“

Er lachte, leise und bedrohlich. „Ich bin dein Herr und Meister, Sharon. Du weißt es nur noch nicht. Jetzt werde ich dich ausbluten, und du wirst mir alles sagen, was ich wissen will. Du wirst mir helfen, Dylan zu finden. Ich werde dich zu meiner Sklavin machen, und du wirst mir deine Tochter direkt in die Hände liefern. Und dann werde ich sie zu meiner Hure machen.“

Er bleckte diese riesigen, tropfenden Fänge und zischte wie eine Viper kurz vor dem tödlichen Biss.

Sharon war außer sich vor Entsetzen darüber, was dieser Mann - diese schreckliche Kreatur - Dylan antun konnte. Sie bezweifelte keine Sekunde, dass er genau das tun würde, was er ihr angedroht hatte.

Und diese Gewissheit war es, die ihre Schritte zur Balkontür lenkte.

Gordon Fasso lachte, als sie sich an der Verriegelung der Balkontür zu schaffen machte. Sie zog sie auf.

„Was denkst du, was du da machst, Sharon?“

Sie wich vor ihm zurück auf den Balkon hinaus, aber er folgte ihr, seine breiten Schultern in dem Sakko füllten den freien Raum der Schiebetür aus. Sharon spürte, wie sich das Balkongeländer hart gegen ihre Wirbelsäule drückte. Weit, weit unten, im hektischen Strom des Verkehrs tuteten Autohupen und kreischten Motoren.

„Du kriegst mich nicht, um sie zu bekommen“, sagte sie zu ihm, ihr Atem kam keuchend über die Lippen.

Sie sah nicht über das Geländer. Sie hielt ihren Blick fest auf die glühenden Kohlen gerichtet, die das Monster vor ihr anstelle von Augen hatte. Und zog etwas Befriedigung daraus, dass er aufbrüllte, hastig nach ihr packte ... und zu spät kam.

Sharon fiel rücklings über das Balkongeländer, hinunter auf den dunklen Asphalt.

 

Der Verkehr vor dem Hochhaus ihrer Mutter staute sich bis zur übernächsten Querstraße. Weiter vorne im Dunkeln blitzten Blaulichter, und die Polizei leitete den Verkehr zu einer anderen Zufahrt auf den Queens Boulevard um. Dylan versuchte, an dem Kleinbus vor ihr vorbeizuspähen und einen Blick auf die Stelle zu erhaschen, wo anscheinend etwas ziemlich Schlimmes passiert war. Gelbes Absperrband riegelte das Straßenstück unter dem Hochhaus ihrer Mom ab.

Dylan trommelte auf dem Lenkrad herum und warf einen Seitenblick auf das mitgebrachte Essen, das allmählich kalt wurde. Sie war später dran, als sie gedacht hatte. Der Besuch in der Stiftung hatte sie fast eine Stunde gekostet, und bei all ihren Anrufen auf der Festnetznummer ihrer Mom war nur der Anrufbeantworter angegangen.

Wahrscheinlich ruhte sie sich gerade aus und fragte sich, was aus ihrer kleinen Feier zum Abendessen geworden war.

Wieder versuchte sie es auf der Festnetznummer, und wieder sprang nur der Anrufbeantworter an. „Scheiße.“

Ein paar Jugendliche kamen auf dem Gehweg vorbeigeschlendert, aus der Richtung des Unglücksorts. Dylan ließ das Fenster herunter.

„Hey, was ist da vorne los? Lassen sie uns bald wieder durch?“

Einer der Jungen schüttelte den Kopf. „So 'ne alte Dame hat 'nen Köpfer von ihrem Balkon gemacht. Die Cops sind da und räumen die Sauerei auf.“

Dylans Magen war plötzlich von Angst erfüllt, schwer wie ein Stein.

„Wisst ihr, von welchem Gebäude?“

„Nö. Eins von den Hochhäusern auf der 108. Straße.“

Oh, verdammt. Oh Herr im Himmel ...

Dylan sprang aus dem Wagen, ohne auch nur den Motor abzustellen. Sie hatte ihr Handy gezückt und wählte die Handynummer ihrer Mutter, während sie im Dauerlauf den Gehweg hinaufrannte, in Richtung des Tumultes bei der Kreuzung, ein paar Häuserblocks vor ihr. Als sie näher kam und sich in die Menge der Schaulustigen drängte, wurden ihre Füße von selbst langsamer.

Sie wusste es.

Sie ... wusste es einfach.

Ihre Mutter war tot.

Aber dann ging ihr Handy los wie die Alarmanlage einer Bank. Sie starrte auf das Display und sah die Handynummer ihrer Mutter auf dem erleuchteten Display.

„Mom!“, schrie sie, als sie abnahm.

Am anderen Ende war Stille.

„Mom? Mom, bist du das?“

Eine schwere Hand fiel auf ihre Schulter herab. Sie warf den Kopf herum und starrte in die grausamen Augen eines Mannes, den sie eben erst auf einem Foto im Büro ihrer Mutter gesehen hatte.

Gordon Fasso hielt das rosarote Handy ihrer Mutter in der Hand. Er lächelte, sodass die Spitzen seiner Fangzähne sichtbar wurden. Als er sprach, spürte Dylan seine tiefe Stimme in ihren Ohren und ihrer Handfläche vibrieren, als seine Worte durch das Handy ihrer Mutter in ihr eigenes drangen.

„Hallo, Dylan. Schön, Sie endlich kennenzulernen.“

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